;TLDR: Die heutigen Medienangebote ersetzen den bisherigen Konsens einer „Mehrheitsgemeinschaft“ durch die Kakophonie virtueller, weltweiter Nischengemeinschaften. In der Vielstimmigkeit bleibt es dem Rezipienten, die jeweilige Bedeutung einer Stimme – wütender Krakeeler oder besonnener Argumentierer – und damit den Wert einer Information selbst herauszufinden. Können wir das, oder wird das unsere Demokratie gefährden?
In den letzten Jahren erleben wir den Umbruch der Medienlandschaft hin zur digitalen Medienwirklichkeit. Aus dem Paradigmenwechsel, dass es jetzt jedem mit einfachen Mitteln möglich ist, eine große Zielgruppe zu erreichen, folgt eine Reihe von Phänomenen:
Der Zusammenbruch der Abonnentenzahlen bei den Angeboten etablierter Medienhäuser. Gleichzeitig der Aufstieg von Mediengrößen wie PewDiePie und Donald Trump – Menschen, die vorher niemals als direkte Publizisten für ein Millionenpublikum hätten in Erscheinung treten können – jedenfalls ohne Ghostwriter. Es wird jeder nächtliche Schreibdaumenausrutscher solcher Multiplikatoren in Echtzeit von Millionen bis Milliarden Empfänger auf der Welt gelesen, jedes vermeintlich spaßige Youtube-Video millionenfach geklickt. Erst nach der Twitter-Sperre ist Schluß mit lustig.
Was verändert das, jenseits des schon angesprochenen Niedergangs der etablierten Mediengrößen?
Für den User wird plötzlich jeder umfallende Sack Reis in China in Echtzeit erfahrbar, dank Twitter, Youtube, Instagram et al. Flugzeugabsturz? Schon kurz danach fluten Dashcam-Videos Twitter.
Nur: Wer hat die Zeit, sich um jeden Sack Reis zu kümmern? Was davon ist relevant? Wer aus meiner Generation (Gen X, nicht Millenial) kennt überhaupt den Namen PewDiePie (von Boomern ganz zu schweigen)? Eines Schweden, dessen Äußerungen von mehr Menschen gehört, gesehen, aufgenommen werden als diejenigen manches Staatsoberhauptes?
In unserer Gesellschaft gehört eine neue Kompetenz in den Bildungskanon aufgenommen: Der Umgang mit Information. Nie zuvor war so viel Information so einfach, direkt und ungefiltert verfügbar. Jede Stunde wurden im Aug. 2021 über 500 Mio. Stunden Video-Content auf YouTube hochgeladen und veröffentlicht. Das entspricht 57.000 Jahren! Unmöglich, alles wahrzunehmen, zu sichten, zu schauen.
In meiner Kindheit musste aus drei Fernsehkanälen ausgewählt werden, und wer Pech hatte, und den falschen Kanal schaute, war am nächsten Tag im Schulbus nicht am Gespräch über “Wetten, dass…?” oder die Fussball-WM beteiligt. Finden heute überhaupt noch solche Gespräche statt? Wie entsteht noch Verbindendes?
“Magst Du auch Musik von XXYY?” war früher ein gängiger Eisbrecher zur Kontaktanbahnung. Geht sowas noch angesichts von 60.000 hochgeladenen Songs bei Spotify – jeden Tag (alleine im Feb. 2021 – mittlerweile sicher noch mehr) ?
Andererseits wird es für Fans von Nischeninteressen immer einfacher, mit einer weltweiten Community in Austausch zu treten und Gleichgesinnte zu finden. Nur trifft man die dann womöglich seltener, vielleicht nie irl (für die Boomer: „im echten Leben”, also real life). Eine Entwicklung, die für viele die Pandemie-Beschränkungen vielleicht erträglicher gemacht hat, und die auch durch die Pandemie selbst beschleunigt wurde.
Heute tobt ein Krieg vor unseren Augen fast in Echtzeit. Videos von Drohnen über den Schlachtfeldern sind mit nur Stunden Zeitversatz im Netz, beide Seiten befeuern ihre Sicht der Dinge und verbreiten ihr Narrativ – eines der neuen Schlagworte.
Wie war Medienrezeption früher doch bequem – Tageszeitung, gerne auch mehrere, wer aufgeklärt sein wollte, als Quelle für Fakten, Meinung im Leitartikel. Die Tatsache, dass schon die Auswahl, ja Themenselektion an sich eine Meinungsäußerung darstellt, wird meistens bequem ausgeblendet. Dass die beruflich gebildeten Journalisten im besten Fall, wenn sie ihren Job ernst nehmen und verstehen, die Fakten prüfen und ausgewogen darstellen – das war der Mehrwert, den man mit dem Preis für die Zeitung bezahlte.
Heute stellt eine sehr große Menge an Content Creators ungefragt allerhand vermeintliche Fakten und ihre Meinung dazu ins Netz. Wer die Augen aufmacht (bzw. ein Twitter- oder Youtube-Konto hat), wird automatisch mit den passenden “Trends” versorgt. Aber wer ist qualifiziert, zu unterscheiden, was echt ist und was fake? Nach welchen Kriterien kann, muss ich entscheiden, welche Quelle vertrauenswürdig ist, und welche nicht? Und welche Bildungsinstitution bringt das dem Nachwuchs bei?
Ich ertappe mich beim Reflex: Das brauche ich alles nicht. Ich muss nicht alles an mich ranlassen. Das betrifft mich nicht. So wenig wie die Meldung von ein paar Kranken in einer Provinz in China irgendwann einmal eine Relevanz für uns entwickeln könnte….
Natürlich könnte man darauf vertrauen: Wenn’s wirklich für mich wichtig wird, dann wird’s schon irgendwann Thema in der Politik und in den vertrauten Medien werden. Aber in der Wirklichkeit konkurrieren in 15 Minuten Tagesschau z.B. Landtagswahlen mit dem Bericht des Weltklimarates. Landtagswahlen haben eine Auswirkung von einer Wahlperiode. Die Konsequenzen des Weltklimaberichts lassen fürchten, dass bei nicht sofortigem Handeln der Planet unbewohnbar werden könnte – für vermutlich mehrere Wahlperioden.
Was für die Konsumenten gilt, gilt auch für die Produzentenseite: Plötzlich wird offenbar, dass Menschen dafür, dass sie Dinge tun, die ihnen Spaß machen, und sich dabei filmen lassen, sehr viel Geld verdienen können. Ein neues Unterhaltungsformat: Nehmt an meinem Leben teil. Und zahlt ganz einfach – mit Eurer Zeit. Ich gebe Euch Anteil an meiner Freude an Dingen, und Ihr widmet mir Eure Zeit und Aufmerksamkeit. Es ist zu erwarten, dass sich dieses Lebensmodell nicht nur in der Hoffnung auf eine Karriere “Reich durch mediale Vermarktung” (und dementsprechend in den hohen FDP-Wählerzahlen der jungen Generation) niederschlägt, sondern die hohe Reichweite auch den Versuch der Beeinflussung mit sich bringt. Von Rezo, über schleichwerbefinanzierte „Influencer“ und politische Demagogen bis zu den Verschwörungstheoretikern und UFO-Fans ist alles dabei. Die Auswirkungen sieht man an der Querdenker-Welle – sie wird nicht die letzte bleiben. Hoffen wir, dass wir es schaffen, unsere Demokratie, unsere offene Gesellschaft hinreichend resilient gegenüber solcher Einflussnahme zu machen. Das muss jetzt beginnen, in den Schulen, in den Köpfen unser aller Kinder.
Es ist Zeit für mehr Medienkompetenz und eine neue Erziehung dazu. Deutschland verschläft hier erneut die Herausforderungen der Gegenwart.
Nachtrag: Und jetzt besitzt auch noch einer der reichsten Menschen der Welt das mächtigste Sprachrohr – und benimmt sich in den ersten Tagen nicht unbedingt so, als habe er die dafür notwendige Medienkompetenz…. es wird spannend bleiben, wie sich das entwickelt….